Der Brief eines ehemaligen Bohrarbeiters

Danke für Ihren Mut

 

Ich schreibe diesen Brief, um mich zu bedanken.

Ich wünschte, ich könnte Ihnen persönlich danken, aber ich weiß nicht, wo Sie wohnen. Sehr gerne würde ich Sie anrufen, aber ich kenne Ihren Namen nicht. Wenn ich wüsste, wie Sie aussehen, würde ich mich auf die Suche machen, aber in meiner Erinnerung sehe ich Ihr Gesicht nur ganz verschwommen. Eines werde ich aber nie vergessen, was Sie getan haben.

 

Sie lehnten dort an ihrem Pick-up, draußen in dem westtexanischen Ölfeld. Da Sie eine Bundfaltenhose und ein sauberes Hemd trugen, konnte man gleich sehen, dass Sie keiner von uns Bohrarbeitern waren.

In der Hackordnung des Ölfelds standen wir ganz unten. Sie waren der Boss, wir die einfachen Arbeiter. Sie lasen die Blaupausen, wir gruben die Rinne. Sie inspizierten das Rohr, wir legten es. Sie aßen mit den anderen Chefs in der Bauhütte, wir aßen im Schatten.

 

Außer an diesem Tag. Ich weiß noch, dass ich mich darüber wunderte, warum Sie das taten. Wir boten keinen schönen Anblick. Wer nicht verschwitzt war, war ölverschmiert. Die Gesichter rot von der Sonne, die Haut schwarz vom Schmierfett. Mich hat es nicht gestört. Ich war nur den Sommer über dort: ein Schüler, der mit dem Verlegen von Rohren gutes Geld verdiente. Für mich war es ein Ferienjob, für die anderen war es der Alltag. Die meisten waren illegale Einwanderer aus Mexiko, andere Heimatlose, die wie Steppenläufer quer über die Prärie trieben.

Wir klangen auch entsprechend. Unsere Sprache war rauh wie Schleifpapier. Nach dem Mittagessen rauchten wir Zigaretten und machten Witze. Immer hatte einer ein Kartenspiel mit leicht bekleideten Mädchen auf der Rückseite dabei. Für eine halbe Stunde verwandelte sich das Ölfeld in Las Vegas: erfüllt von derber Sprache, schmutzigen Geschichten, Blackjack und Barhockern, die zugleich unsere Lunchboxen waren.

 

Während eines solchen Spiels kamen Sie auf uns zu. Ich dachte, Sie hatten eine Aufgabe für uns, die keinen Aufschub duldete. Wie die anderen stöhnte ich auf, als ich Sie kommen sah.

Sie waren nervös. Als Sie zu reden begannen, traten Sie von einem Bein aufs andere.

"Äh, Leute …", sagten Sie.

Wir drehten uns um und sahen Sie an.

"Ich … ich wollte Euch nur, äh, einladen …."

Es war Ihnen unglaublich unangenehm. Ich hatte keine Ahnung, was Sie als Nächstes sagen würden, aber ich merkte, es hatte nichts mit der Arbeit zu tun.

"Ich wollte euch nur Bescheid geben, dass, äh, unsere Gemeinde heute Abend einen Gottesdienst veranstaltet, und, ähm …"

Wie bitte? Ich konnte es kaum fassen. Er missioniert? Hier draußen? Bei uns?

"Wer Interesse hat, den möchte ich gern einladen, zu kommen."

 

Peinliche Stille. Völliges Schweigen. Es war so still, als hätte eine Nonne eine Puffmutter gefragt, ob sie das Bordell für eine Messe nutzen könne. Als hätte ein Mitarbeiter des Finanzamts die Mafia zu einem Seminar über korrekte Buchführung eingeladen.

Einige Jungs sahen betreten zu Boden. Ein paar warfen sich verstohlene Blicke zu. Man hörte unterdrücktes Lachen.

"Also, das wäre alles. Falls jemand von euch mitkommen möchte … äh, sagt einfach Bescheid."

 

Nachdem Sie sich umgedreht hatten und wieder gegangen waren, brachen wir in lautes Gelächter aus. Wir nannten Sie "Herr Pastor", "unser Pfaffe" und "der Papst". Wir zogen uns gegenseitig auf und forderten uns heraus, wirklich hinzugehen. Sie waren an diesem Tag die Zielscheibe für all unseren Spott. Ich bin mir sicher, dass Ihnen dies bewusst war. Bestimmt liefen Sie zu Ihrem Pick-up zurück und waren sich im Klaren, dass Sie nichts weiter erreicht hatten, als sich komplett zum Narren zu machen.

Falls dem so war: Sie lagen falsch.

 

Aus diesem Grund schreibe ich diesen Brief.

Ich möchte Ihnen sagen, dass zumindest ein Samenkorn in eine fruchtbare Erdspalte fiel.

Ungefähr fünf Jahre später rang ein Student mit einer schweren Entscheidung. Er hatte sich von dem Glauben entfernt, den seine Eltern ihm mitgegeben hatten. Aber er wollte zurück. Zurück nach Hause. Doch der Preis war hoch: Er würde zum Gespött seiner Freunde werden. Seine Gewohnheiten mussten sich ändern. Er genoss einen gewissen Ruf, den er würde loswerden müssen.

Würde er den Schritt wagen? War er mutig genug? Da musste ich an Sie denken. Als ich spätabends in meinem Zimmer im Studentenwohnheim saß und in mir nach dem Mut suchte, das richtige zu tun, dachte ich an Sie.

Ich dachte daran, dass Ihnen Gott wichtiger war als Ihr Ruf. Ich dachte daran, dass Ihr Gehorsam größer war als Ihre Vernunft.

Mir fiel auf, dass es Ihnen mehr bedeutete, eine Einladung zu Gott zu hinterlassen als einen guten ersten Eindruck. Und als ich über Sie nachdachte, motivierte mich die Erinnerung dazu, die richtige Entscheidung zu fällen.

Und so kehrte ich zurück nach Hause.

 

Ich habe schon duzende Male von Ihnen erzählt, vor Tausenden von Leuten. Jedes Mal ist die Reaktion die gleiche: Im Publikum breitet sich allgemeines Gelächter aus und Köpfe nicken verständnisvoll. Manche lächeln, weil sie an den "Ingenieur mit dem sauberen Hemd" in ihrem eigenen Leben denken. Sie erinnern sich an den Kuchen vom Nachbarn, den Brief von der Tante, den Lehrer mit einem offenen Ohr….

Andere lächeln, weil sie etwas Ähnliches getan haben wie Sie. Und auch sie fragen sich, ob ihre "Mittagsmission" das Ganze wert war.

Das haben Sie sich bestimmt auch gefragt. Was Sie an jedem Tag taten, war nicht viel. Ich vermute, Sie haben damals gedacht, dass alle Mühe umsonst war. Sie war es nicht.

 

Ich möchte mich bei Ihnen bedanken. Danke für Ihr Vorbild. Danke für Ihren Mut.

 

"Die übrige Saat aber fiel auf fruchtbaren Boden und brachte  das Dreißigfache, das Sechzigfache, ja sogar das Hundertfache der Aussaat als Ertrag."

Matthäus 13, 8

 

Text aus dem Buch: "Schön, dass es dich gibt" von Max Lucado

 


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Dieser Beitrag wurde am 9. April 2013 veröffentlicht.

2 Gedanken zu „Der Brief eines ehemaligen Bohrarbeiters

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